Vor kurzem interviewte mich eine Theologiestudentin aus dem schönen Schwarzwald, die das Gebiet des germanischen Heidentums in Deutschland für sich und ihre Arbeit entdeckt hat. Sie stellte mir ihre Kernfragen vorab zur Verfügung, so dass ich mich darauf vorbereiten und diese vor allem vorher sichten konnte. Daraus wurde dann eine eineinhalbstündige – insgesamt angenehme und konstruktive – Online-Videokonferenz.
Ich finde sowas ja grundsätzlich gut und stehe dem sehr aufgeschlossen gegenüber. Voraussetzung ist natürlich, dass die Person, die sich mit dem Thema beschäftigt, bereit ist auch wirklich unvoreingenommen, objektiv und nicht tendenziös an die Sache heranzugehen. Also eine Grundhaltung an den Tag legt, die ich mit realitätszugewandt beschreiben würde, was man implizit zwar irgendwie erwarten sollte, doch auf der anderen Seite überhaupt nicht selbstverständlich ist. Ich wollte sogar gerade noch „in den heutigen Tagen“ hinzufügen, aber dies ist in Bezug auf das „Forschungsobjekt Heidentum“ nicht ganz korrekt, weil ich hier tatsächlich eine eher gegenläufige Tendenz beobachte.
Ein Exkurs
Was meine ich damit: Während die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Teilen eher in Richtung Indoktrination, Ideologisierung und in ein unhinterfragtes Fürwahrhalten von vorgegebenen Lehrsätzen (der Obrigkeit, Machterhalt) abdriftet, was oft mit dem Nichtakzeptieren (ausgrenzen und bekämpfen) von anderen legitimen Meinungen und Überzeugungen verbunden ist (was ich als hochproblematische Entwicklung gegen Freiheit und Selbstbestimmung empfinde), scheint der Umgang mit dem „Nischenphänomen Heidentum“ seit einiger Zeit in eine objektive und realitätsnahe Richtung zu gehen. Erstaunlicherweise.
Als Vorreiter einer Forschung, in deren Ergebnisse und Publikationen ich mich auch selber wiederfinde, kann René Gründer genannt werden. Es zählen auch noch andere dazu, aber mit seiner Arbeit und mit seinen Veröffentlichungen verbinde ich einen Zeitpunkt, an dem eine unvoreingenommene, objektive und vor allem nicht tendenziöse Grundhaltung sichtbar wird. Ein wesentlicher Schlüsselmoment im heidnischen Mikrokosmos, wenn ihr mich fragt. Denn wie war es vorher? Zuvor hatten Titel wie „Germanenmythos und heidnische Bräuche“, oder „Göttertrost in Wendezeiten: neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus“ (von Schnurbein) die breitflächige Deutungshoheit eingenommen und stellten uns ein hinterwäldlerisches, radikales, völkisches und naives Pauschalurteil über alle hinweg aus, ohne die Möglichkeit einer adäquaten Differenzierung oder Gegenposition (als Korrektiv) zuzulassen. Natürlich gab (und gibt) es diese innerhalb des Heidentums, doch fanden sie nur schwer Gehör gegen die exponierte Position der Hofberichterstattung. Es wurde einfach nicht gesehen oder ernst genommen. Nach dem Motto „ach so, die Hinterwäldler sehen das anders oder fühlen sich gar missverstanden… naja, egal…“
Im Grunde lässt sich zusammenfassend festhalten: Wenn über mich (respektive uns als Ganzes) etwas geschrieben wird, dann muss ich mich selbstkritisch darin wiederfinden können. Wenn dies nun gar nicht das Fall ist, liegt an irgendeiner Stelle ein Bruch vor.
Glücklicherweise gehört diese Ära der isolierten und eintönigen Darstellung der Vergangenheit an und weicht nunmehr einer wesentlich differenzierten Herangehensweise, was dem breitgefächerten und facettenreichen Heidentum auch mindestens angemessen ist. Dafür gibt es viele Gründe und letztlich ist es eine Verkettung verschiedener Umstände, die diesen Zustand beflügeln. Nicht zuletzt auch die inneren Ausdifferenzierungs- und Abgrenzungsprozesse selbst, die dazu geführt haben, dass sich heute eine Landschaft im Heidentum herausgebildet hat, deren Teilmengen sich deutlich voneinander unterscheiden. Was ich aber primär damit sagen möchte ist, dass ein Element eben auch diese Interviews und wissenschaftlichen Arbeiten über uns sind, die uns und anderen im Ergebnis ein gutes Werkzeug zur Selbstreflexion und ein Sich-selbst-Erkennen in Resonanz mit einer Außenwahrnehmung ermöglichen. Und dafür können wir dankbar sein. Die von-Schnurbeins und andere werden weiterhin ihre vorgefertigten Eigeninterpretationen herausblasen. Das muss uns dann nicht mehr jucken. Ich wiederhole noch mal: Wenn über mich (respektive uns als Ganzes) etwas geschrieben wird, dann muss ich mich selbstkritisch darin wiederfinden können. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt an irgendeiner Stelle ein Bruch vor.
Zurück zum Interview.
Ihr könnt feststellen, dass es um Kernfragen geht die sich an der Oberfläche bewegen. Man könnte auch auf den Asentreu-Seiten nachlesen. Warum also noch mal ausgiebig in einem Interview berichten, Stellung beziehen und diskutieren? In meiner Vorbereitung ist mir dann aber aufgefallen, dass sich über jede einzelne Frage Stufe um Stufe beliebig tief abtauchen lässt. Es ist wahrscheinlich eine Schablone an Kernfragen die man von außen anlegt, um überhaupt erst mal ein Muster zu erkennen, welche grundlegenden Vorstellungen vorhanden sind. Von daher würde ich empfehlen, die folgenden Fragen vielleicht in zwei Durchgängen zu lesen. Das erste Mal in der beschriebenen Sichtweise, also oberflächlich. Das zweite Mal bewusster und die Tiefe gleitend:
- Nur Bruchstücke der Überlieferungen von damals sind erhalten geblieben, aus welchen Quellen entstand der Rest der Religion?
- Was ist die Intention hinter opfern und wie wird es praktiziert?
- Welche Feste werden heute gefeiert und wie sieht der Ablauf (bspw. an der Sommer- oder Wintersonnenwende) eines Festes aus?
- Welche Lebensabschnitte werden gefeiert und inwieweit werden damalige Bräuche in heutige Feiern integriert?
- Welche Vorstellung vom Jenseits wird heute vertreten?
- Glaubt man an die Sagen von früher? (Weltenaufteilung, Götter, Riesen, Weltentstehung etc.)
- Glaubt man heute noch an Magie und wie wird diese dann verwendet?
Folgende Stichpunkte und Notizen habe ich mir gemacht:
1.Frage: Nur Bruchstücke der Überlieferungen von damals sind erhalten geblieben, aus welchen Quellen entstand der Rest der Religion?
ING: Es existieren unterschiedliche Quellen (Primär- Sekundärquellen usw.), zu denen die Eddas, Sagas und Mythen genauso gehören wie Runentexte, Textfragmente und noch einiges mehr. Wichtig in Verbindung mit dieser Frage steht aber vielmehr, dass es nicht um museale Restaurierung vorchristlicher Artefakte geht, sondern um ein lebendiges Erleben. Es darf von vornherein klar sein, dass wir die Alte Sitte nicht aus einer rein rekonstruktiven Blickrichtung sehen. Wir verstehen uns selber als Fortführende und zugleich Wiederbegründer einer einst vorchristlichen Religionstradition, die an alte Wurzeln anknüpft und doch mit der Zeit geht.
2. Frage: Was ist die Intention hinter opfern und wie wird es praktiziert?
ING: Verbundenheit durch Gabentausch. Der altnordische Begriff des Blóts bringt zum Ausdruck, dass wir in dieser ritualisierten Form des Gabentausches unsere Verbundenheit „durch das Opfer stärken“.
3. Frage: Welche Feste werden heute gefeiert und wie sieht der Ablauf (bspw. an der Sommer- oder Wintersonnenwende) eines Festes aus?
ING: Grundsätzlich stehen die Jahres- und Lebenskreisfeste im Mittelpunkt. Die Jahreskreisfeste orientieren sich an Sonne und Mond, sowie weiteren natürlichen Vorgängen in Natur, Vegetation und deren Übergänge. Stichwort Übergang: Die Lebens(kreis)feste sind Übergangsriten, deren Schwellensituationen rituell und zeremoniell begleitet werden. Ein Übergang aus einer abschließenden (gefestigten) Phase in die nächste ist mit Unsicherheiten verbunden. Diese werden in den Strom der Gemeinschaft der Götter und Menschen eingebettet.
Zum Ablauf bzw. der elementaren Feststruktur: Einhegung, Anrufung, Opfer/Dank, Ausklang
4. Frage: Welche Lebensabschnitte werden gefeiert und inwieweit werden damalige Bräuche in heutige Feiern integriert?
ING: Die zyklischen Vorstellungen und Bilder spielen besonders in traditionalen Kulturen eine zentrale Rolle: Im steten Kreislauf aller Dinge entsteht aus dem Ende eine neue Frucht, die zur Reife kommt, sich von jenem ablöst, das sie hervorgebracht hat, um dann wiederum die Voraussetzung für etwas Neues zu werden. Auf diese Weise ergibt sich ein ewiger Übergang vom Alten zum Neuen. Als Eckpunkte (in zeitlicher Abfolge eines Menschenlebens) können Geburt, rituelle Aufnahme in die Familie (Namensgebung, Kindsweihe, Namensweihe), das Erwachsenwerden, die Hochzeit und Tod angesehen werden. Dazwischen können aber auch noch weitere individuelle Abschnitte liegen. Und in diese Feiern werden dann in der Regel regionale Bräuche integriert. Diese sind von Region zu Region unterschiedlich, ich kann sie nicht alle aufzählen.
5. Frage: Welche Vorstellung vom Jenseits wird heute vertreten?
ING: Eine schwierige und leichte Frage zugleich: Es ist die Rückkehr in den fortlaufenden Kreislauf. Es lässt sich so viel sagen, dass Konsens in den heidnischen Vorstellungen insoweit besteht, dass es sich nicht um einen strafenden Ort handelt. In der mythologischen Vorstellungswelt existieren verschiedene Orte, die zwischen Erde/Muttererde, Wasser/Meer oder heldischen/kriegerischen Orten variieren. Das bleibt ein stückweit abhängig von den eigenen Vorstellungen.
6. Frage: Glaubt man an die Sagen von früher? (Weltenaufteilung, Götter, Riesen, Weltentstehung etc.)
ING: Jede Kultur, Religion, Tradition usw. hat ihre kosmogonischen Mythen. Diese dienen in erster Linie dazu, den Ursprung der Welt umfassend vorstellbar zu machen und sinnhaft/sinngebend in eine Grundordnung einzufügen. Es ist ja nun mal so, dass die Entstehung der Welt fernab unserer Beobachtungsmöglichkeit am Anfang der Zeit in der Vergangenheit liegt und nicht wiederholbar ist. Dementsprechend sind die Bilder der nordischen und germanischen Mythologie sprechend für mich und ich erkenne Grundmuster darin, in denen ich mich persönlich als in der heutigen Welt lebender Mensch (mit den rationalen, naturwissenschaftlichen, mathematischen etc. Prägungen) sehr gut wiederfinde. Hier kann ich in erster Linie aber nur für mich selbst sprechen. Das „Glaubt man…“ in der Frage fragt ja nach einer Übertragbarkeit (z.B. auf das Heidentum insgesamt) – und das lässt sich nicht beantworten. Ich gehe jedoch davon aus, dass ein gewisser Konsens zumindest für jene Teilmenge in der großen heidnischen Szene herrscht, die sich in der Definition der Alten Sitte bewegt – also wie es z.B. auf Asentr.eu und Asatru.Network beschrieben wird.
Die Frage nach einer generellen Gültigkeit oder verbindlichen Festlegungen lässt sich auch anders beantworten: Nein, diese gibt es im Heidentum ja gerade nicht. Das Heidentum missioniert zum einen nicht, zum anderen wird auch keine Linie oder Lehre vorgegeben, der man zu folgen hat. Es wird kein Bekenntnis verlangt oder vorausgesetzt. Es existieren Rahmenbedingungen (durch Quellen, Mythen, Sagas etc.), die man vielleicht als Leitplanken verstehen könnte, innerhalb derer jeder seinen eigenen Weg finden muss. Und dies ist ja der große Unterschied, auch die große Anstrengung und Herausforderung dahinter. Man begibt sich nicht in die feste Organisation mit Regeln und Vorgaben, die einen strikten Weg vorzeichnet. Im Heidentum ist man selber gefordert, sich die Inhalte zu erschließen und für sich zu erarbeiten. Dass sich dann die verschiedenen Wege ähneln und manche in die eine, manche in andere Richtung gehen, ist einleuchtend – denn so entstehen die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Heidentums. Ergo liegen Übertragbarkeiten oder verbindlichen Festlegungen nicht in der Natur des Heidentums. Es ist Freiheit und Selbsterkenntnis zugleich. Jeder muss selbst aktiv werden und nach der Hand greifen, die einem von den Göttern hingereicht wird. Nur konsumieren und mitlaufen, Regeln befolgen ist da einfach nicht, das reicht nicht.
7. Frage: Glaubt man heute noch an Magie und wie wird diese dann verwendet?
ING: Die Frage lässt sich mit Ja beantworten. Religion und Magie unterschieden sich ja in der Weise, dass im religiösen Ritual (Blót) die göttliche Heiligkeit angerufen und geehrt wird. Eine magische Handlung wiederum, die durchaus im rituellen Rahmen eingebettet sein kann, wird durchgeführt, um einen Gegenstand mit einer heiligen, göttlichen Macht in Berührung zu bringen, um den Gegenstand damit „aufzuladen“ oder um etwas mit der „heiligen Kraft“ zu bezwecken. Der Thorshammer schützt mich, wenn Thor will – also eigentlich schützt mich Thor bzw. ich bitte ihn mit dem Hammertragen, es zu tun. Magie wäre, wenn ich glaube, der Hammer selbst hätte diese „magische Schutzkraft“. Beides gibt es in verschiedenen Formen, also auch die Magie. Magische Handlungen sind ja z.B. auch in Mythen oder Runenfragmenten überliefert und dabei ist es ratsam, dass man sich den konkreten Kontext anschaut. Sonst klingt Magie nach Hokuspokus und Aberglaube.
Vielen Dank für die interessanten Fragen und das konstruktive Interview.